Ähnlich dem unglaublichen Formationenflug der Schwalben fliegen die Gedanken durch die Schluchten und Felsen des Gehirns - und fangen doch nur Mücken.
Gruß
Karl
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Hallo,
die 10. Andern und Jemand Geschichte:
Andern und Jemand und die Krise
Andern wollte eigentlich nie etwas Besonderes sein, nur er selbst. Dann aber war ihm aufgefallen, das er tatsächlich nichts Besonderes war.
Das beunruhigte ihn.
Und weil er sowieso langsam in das Alter kam, in dem man Bilanz zieht, hatte er sich in eine Dachgeschoßwohnung zurückgezogen. Ohne Jemand. Diesmal wollte er alleine herausfinden, wie es weitergehen sollte.
Und dann, eines morgens, nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich und seine Gedanken ergebnislos durch die Zimmer geschleppt hatte, geschah dies:
Er hatte ein heißes Bad und eine kalte Dusche genommen. Feuchtigkeit perlte an der Schräge über der Badewanne. Dachfenster und Spiegel waren mit Dunst überzogen. Während er vor das Waschbecken trat, um sich zu rasieren, rann das Badewasser in den Abfluß. Andern wischte mit dem feuchten Handtuch den Dunst vom Spiegel und sah - nichts. Nach einigen Momenten des Unglaubens und der Lähmung rannte er, nur mit dem Bademantel bekleidet, ins Treppenhaus und auf die Straße und schrie: Ich habe meinen Kopf verloren! Mein Kopf ist weg! Wieso?“
Die Nachbarn, die ihn daraufhin umringten, weil sie zunächst eine Sensation vermuteten, versuchten ihn zu beruhigen. Nichts half, kein gutes Zureden, kein Schulterklopfen. Er schlug sogar um sich.
Schließlich packten ihn zwei Männer, schleiften ihn durchs Treppenhaus in seine Wohnung und banden ihn ans Bett. Und weil er trotzdem nicht aufhören wollte mit seinem Geschrei, versammelten sich einige Nachbarn in seiner Küche, um zu beraten, was man sonst noch tun könnte in so einem Fall. Und obwohl anfangs sogar das Irrenhaus in Betracht gezogen wurde, einigte man sich schließlich darauf, abzuwarten. „... War dieser Nachbar nicht ein Künstler, oder so? Künstler und Krisen - na also!“
Wie das so ist, die Nachricht von dem ausgeflippten Mieter verbreitete sich wie eine ansteckende Krankheit im Viertel und nahm die seltsamsten Formen an:
„... Weißt du, was ich gehört habe?“
„Erzähl.“
„Einer aus unserer Straße, wahrscheinlich Trinker, jedenfalls soll er fürchterlich gezittert haben, also, der Typ hat sich heute morgen beim rasieren den Kopf abgeschnitten.“
„Ach.“
„Wenn ich’s dir sage. Und dann, ich weiß nicht wie, muß der Kopf die Flurtreppe runtergepoltert sein und stundenlang da gelegen haben...“
„... Hör mal! Dingsbums, der Name ist mir entfallen, hat gesagt, ein Mann hätte heute morgen beim hinauslehnen aus seinem Dachfenster seinen Kopf verloren.“
„Du übertreibst.“
„Nein, paß auf: Unten, auf der Straße, soll eine Person geschrieen haben, du bist verrückt da oben! Ja, und da wollte er nachsehen, wer so was in die Gegend schreit.“
„Komm auf den Punkt.“
„Jaaa, also der Kerl lag aber gerade in der Badewanne. Um die Dachluke zu öffnen, mußte er auf den Badewannenrand steigen.“
„Ja und?“
„Na alles glitschig, ist doch logisch. Er rutscht aus, die Dachluke quetscht ihm den Kopf ab, der Kopf knallt wie ein Fußball auf den Bürgersteig, springt hoch, dem Rufer genau in die Arme und soll noch geblinzelt haben...“
Jemand, der nur einige Straßen weiter wohnte, er hatte das gemeinsame Haus aufgegeben um in Anderns Nähe zu bleiben, erreichte das Gefasel am nächsten Morgen beim Einkaufen. Er nahm sich vor, die Sache in Ordnung zu bringen. Noch mit der Einkaufstasche in der Hand, traf er, im Hausflur und in der Küche Anderns, auf die übernächtigten Nachbarn. Jemand bahnte sich einen Weg durch die Ansammlung, trat vor den schreienden Andern und schlug ihn mit der Faust auf den Kopf.
„Au! - Mein Kopf ist wieder da! Ich habe meinen Kopf zurück! Bindet mich los!“ Und wieder rannte er auf die Straße und schrie und tanzte vor Freude.
Jemand, der ihm nachgegangen war, hielt Andern am Ärmel fest. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, verschluckte aber seine Worte und ging mit hängenden Schultern davon.