Ähnlich dem unglaublichen Formationenflug der Schwalben fliegen die Gedanken durch die Schluchten und Felsen des Gehirns - und fangen doch nur Mücken.
Gruß
Karl
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Hallo,
Hier nun, wie versprochen, der 2. Andern und Jemand - Text:
Andern und Jemand und die tägliche Luft
Andern glaubte an der täglichen Luft zu ersticken. Da ging er zu Jemand, denn der hatte sich, wie zu hören war, wiederholt als Heiler erwiesen.
Jemand sagte: „Die Heilung wird aber sehr langwierig sein.“
Andern erwiderte: „Dann kann ich sie nicht bezahlen.“
„Jemand sagte: „Meine Behandlung kostet dich nur die Zeit, die sie beansprucht und, daß du sie durchhältst.“
Das fand Andern ganz passabel.
Die Behandlung begann sofort: Jemand führte ihn zum Ventil eines sehr großen, aber schlaffen Ballons; da mußte er hineinblasen, jeden Tag einmal. Und jedesmal fragte ihn Jemand: „Bist du geheilt?“
Im Laufe der Zeit füllte sich der Ballon mit Luft und nahm Gestalt an und nie kam Andern ein „Ja“ über die Lippen. Und im selben Maße, wie sich der Ballon straffte, wuchs in Andern, anfangs beinahe unmerklich, der Gedanke von der Lächerlichkeit der Prozedur, und er überlegte sich, wie er sie, ohne das Gesicht zu verlieren, beenden könne.
Doch das erwies sich als unmöglich. Denn die Frage: „Bist du geheilt?“ war zu etwas Eigenständigem geworden: Nicht Jemand stellte sie, sondern sie stellte sich selbst, und stand dabei vor Andern, wie eine uneinnehmbare Festung. Und so antwortete er eines Tages: „Ich weiß nicht.“ Und nach einer Pause: „Aber nun möchte ich vom Geheiltwerden geheilt werden.“
Jemand sagte nichts.
Darauf Andern: „Muß ich denn nun immer noch täglich einmal in den Ballon blasen?“
Jemand antwortete: „Warum nicht?“
Darauf Andern: „Weil ich es für übertrieben pedantisch halte.“
Jemand erwiderte: So lange du es nicht besser weißt, kannst du ebenso gut täglich einmal in den Ballon blasen.“
Und weil das stimmte, wollte Andern es besser wissen. Er wurde ein Meister des Findens der Literatur über das Für und Wider des Ballonaufblasens. Jede freie Stunde verbrachte er damit. Er dachte, so vorbereitet könne er der Frage, die sein Leben bestimmte, wenigstens standhalten, wenn es schon keine Antwort auf sie gab. Und so lernte er, mit einer Frage auf die Frage zu antworten, jeden Tag mit einer neuen. Jemand ging darauf ein, und bald hatten sie sich in ein scheinbar endloses Streitgespräch verwickelt.
Auf diese Weise vergingen zwanzig Jahre. Der Ballon war prall und fest geworden und füllte beinahe den ganzen Behandlungsraum aus. Der Rest waren Regale, angefüllt mit Notizbüchern. Jemand hatte jedes Wort ihrer ausufernden Streitereien festgehalten. Andern wußte das. Er wußte auch, daß es Protokolle seiner Niederlagen und Ausflüchte waren. Zu was hatte er sich nicht alles verstiegen, kurz, er hatte Gott und die Welt für seinen Zustand verantwortlich gemacht und sich nur noch immer mehr in Widersprüche und Haltlosigkeiten verwickelt, und das stand nun alles in den Büchern!
Als die zwanzig Jahre um waren, genau auf den Tag, beschloß Andern Jemand umzubringen. Einmal, lange bevor er glaubte es besser wissen zu müssen, hatte er eine lange Nadel in die Behandlung gebracht, da wollte er den Ballon zerstechen. Doch ehe er den Ballon zum platzen bringen konnte, hatte er sich selber verletzt. Den Mord wollte er ohne Werkzeug begehen, nur mit den Händen. Ein schlechtes Gewissen würde er nicht bekommen: War es nicht Jemand, der seinen Ehrgeiz anstachelte, indem er beharrlich diese unheilvolle Heilsfrage stellte? War es nicht Jemand, der ihn auf diese Weise verführte, die tägliche Farce des Ballonaufblasens durchzuhalten? Und, war es nicht dieser Jemand, der ihn auch noch verhöhnte, indem er seine Niederlagen und Ausflüchte für die Nachwelt festhielt? Doch, er mußte Jemand umbringen, nachher komme, was will!
Aber einmal wollte Andern doch noch in den Ballon blasen, einmal nur so aus Spaß. Er würde Jemand sogar noch einmal diese widerwärtige Frage stellen lassen, schon, um keinen Verdacht zu erregen. Also blies er in den Ballon, und wie gewohnt fragte Jemand: „Bist du geheilt?“ Aber zum ersten Mal wußte es Andern weder besser, noch war es ihm wichtig zu antworten.
Später, als Andern und Jemand schon nicht mehr aus dem Lachen heraus kamen, hätten sie nicht mehr zu sagen gewußt, ob der Ballon, als er platzte, übermäßig laut geknallt hat.