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Stigmatisierung wird salonfähig!

Bean / 24 Antworten / Flachansicht Nickles

Stigmatisierung wird salonfähig!

Weil ich mich gerade mächtig ärgere, dass ein Depp ein wichtiges Thema an die Wand fährt, hier mal meine Meinung zum Thema Raucher in unserer Gesellschaft:
Was ist gesund? Was ist politisch, gesellschaftlich ökologisch oder ökonomisch korrekt und wer befindet eigentlich darüber? Die Medien, der Mainstreem oder wir selbst?

Raucher sind neuerdings die erklärten Feinde unseres Ökosystems. Sie sind willensschwach, unverantwortlich, unvernünftig, lasterhaft und ……………abhängig!
Sie sind süchtig! Glaubt hier noch irgendwer an den Genussraucher? Blödsinn, Genussraucher sind Fabelwesen!
Ich habe mit 15 Jahren das Rauchen begonnen, jetzt bin ich 45. Als ich aufwuchs, war es völlig normal, dass Erwachsene auch in Anwesenheit von Kindern rauchten. Sogar im Auto(in meinem Fall ein Käfer) auch wenn auf der Rückbank die Kinder saßen und sogar im Winter bei geschlossenen Fenstern und voller Heizkraft in diesem Fahrzeug meiner Kindheit. Es war eine Zeit, in der es normal war, überall und immer zu rauchen. Fand irgendwo ein privates Fest statt, standen auf den Tischen Zigaretten zur freien Verfügung, so wie heute Chips oder ähnliches. Mit 15 Jahren habe ich dann angefangen. Meine Eltern fanden das nicht toll aber auch nicht schlimm. Beide rauchten damals selbst noch.
Ich weiß seit zig Jahren, was das Rauchen mit mir macht. Ich kenne die Konsequenzen für meinen Körper. Ich kenne die schrecklichen Bilder und ich habe beruflich tausende von durch Rauchen erkrankte erlebt. Ich rauche trotzdem noch, weil ich definitiv süchtig bin. Ich habe es schon öfter versucht, den Mist zu lassen. Akupunktur, Allan Carr, usw. Die längste rauchfreie Phase meines Lebens hielt ein halbes Jahr.
Ich rauche nicht gerne. Meine Kinder finden er eklig, den Rauch zu riechen, meine Frau sicher auch – auch wenn ich nur in unserem Hauswirtschaftsraum und im Auto alleine rauche.
Diese Antiraucherkampagne hilft vielleicht meinen und anderen Kindern. Sie finden Rauchen uncool und das ist als Erfolg dieser Kampagne nicht gering zu schätzen. Was macht dieser Dauerbeschuss gegen die Raucher aber mit mir und den anderen Nikotintrotteln?
Was macht uns krank? Das Rauchen selbst oder die Gewissheit, was uns alles Schlimmes blüht, wenn wir weiterrauchen? Hilft es uns, täglich die Botschaften auf den Zigarettenpackungen, die Ausgrenzung aus öffentlichen Lebensräumen und die schlimmen Botschaften der Medien zu vernehmen? Was ist denn die Hilfestellung der Gesellschaft an uns? Welche Krankenkasse zahlt denn für sinnstiftende ärztliche Hilfe zum Entzug von der Zigarette? Wir werden stigmatisiert, weil unser Laster sichtbar und riechbar ist!
Wir verhalten uns nicht regelkonform und deswegen straft man uns ab. Ist das sozial, ethisch oder menschlich korrekt?
Rauchen ist ein sichtbarer Makel geworden, was ist aber mit den anderen menschlichen Fehlleistungen? Rauchen, Trinken, Esssucht, Spielsucht – alles noch einigermaßen offensichtlich erkennbar. Was ist aber mit Selbstsucht, mit Arbeitssucht mit Geltungssucht? Es gibt viele Süchte, die eher im Verborgenen blühen! Die sieht man nicht, die machen aber auch krank.
Wenn so jemand zum Arzt oder ins Krankenhaus kommt, steht ihm jede Tür zur besten Behandlung offen. Als Raucher oder Trinker oder Dicker aber droht sofort der Stigma-Stempel. Auf dem steht in Sperrschrift „Vorsicht Unvernunft“ (Nur im Bild gesprochen – den gibt es nicht wirklich). Der Mensch hat einen Herzinfarkt. Dann folgt die Abwägung, der als sinnvoll zu erachtenden Maßnahmen. Anamnese: Trucker, 54 Jahre, übergewichtig, Raucher, Coffeinabusus – im Grunde die fleischgewordene Unvernunft. Tja, nun ist er krank, ist ja auch selbst Schuld. Was machen wir denn da? Akutbehandlung, klar. Und dann? Wie weit gehen die medizinischen Maßnahmen? Als würde es nicht schon reichen, dass die Zweiklassenmedizin längst Realität ist.
Wird alles angewendet, was möglich ist? Kann man das der Solidargemeinschaft aller Krankenversicherten zumuten? Fragen über Fragen – ausgesprochen oder unausgesprochen!
Wer aber ist das, der da krank geworden ist? War das ein netter, liebevoller Ehemann und Vater, fleißiger Arbeiter, humorvoller, lebenslustiger Mensch? Fragen, die immer seltener gestellt werden solange man Menschen weiterhin nach Äußerlichkeiten beurteilt. Und genau dies scheint momentan ganz schwer in Mode zu kommen.
Vorsicht! Mal einen Gang zurückschalten, sich selbst prüfen und mal über eigene soziale und ethische Grundhaltung nachdenken.
Raucher haben ein schlimmes Laster aber sie sind auch Menschen. Sie zu stigmatisieren, hilft ihnen nicht und Euch auch nicht!
Mal abwarten, welche Sau nach den Rauchern durchs Dorf getrieben wird.

Übrigens starte ich Anfang April wieder mal einen Versuch, das Rauchen zu lassen. Diesmal mit einem neuen Medikament, das angeblich sehr gut helfen soll. Ich habe es von einem Arzt zum Geburtstag bekommen, der meiner Argumentation offensichtlich partiell folgen konnte.

Als letztes hier noch mal ein interessanter Link aus einer Richtung, die verwirrt:
http://www.aeksh.de/shae/2006/200608/h068035a.html

Gruß und schönes, tolerantes Wochenende
Bean

Zum Glück gibt´s kein Gesetz gegen Unvernunft!
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Mit der gleichen Logik... Olaf19
dl7awl Bean „Stigmatisierung wird salonfähig!“
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Zunächst mal danke für das Eröffnungsposting - es ist angenehm, statt platter Polemik mal einen differenzierten und nachdenklichen Beitrag zu lesen (das Thema ist so gesehen fast egal).

Zum Rauchen-Aufhören: ich habe kein Rezept, aber wenn es glatt geht, ist das imho im Wesentlichen eine Kopfsache.
Mir ging es (fast) wie Jüki. Ich habe in jungen Jahren gequalmt wie ein Schlot, mehrere Versuche des Aufhörens scheiterten. Und dann, eines Tages, völlig ungeplant, hat es im Kopf irgendwie "klick" gemacht. Wollte ich es mit Worten beschreiben, müsste ich sowas sagen wie: plötzlich wurde mir klar, was ich mir und meinem Körper da permanent antue. Aber das trifft es nicht wirklich, denn natürlich wusste ich das auch vorher schon. Aber auf einmal war es wie eine neue Art der Klarheit: die innere Zerrissenheit, der Konflikt zwischen Bedürfnis und schlechtem Gewissen, waren plötzlich wie weggeblasen. Was der Anlass war, weiß ich nicht, bzw. es gab keinen. Ich war, rückblickend gesagt, plötzlich durch und durch eins mit mir, so wie es im Leben wohl nur selten vorkommt. Manche nennen sowas Bewusstseinserweiterung, manche Grenzerfahrung, manche "Erleuchtung". Ich musste mir also gar nichts vornehmen, nichts einreden, mich zu nichts zwingen - vielmehr wusste ich auf einmal: Ich werde nie wieder rauchen. Es war kein Vorsatz, sondern eine Feststellung. Und mir war im gleichen Moment auch völlig klar, dass ich (etwas anders als Jüki) nie wieder das Bedürfnis danach haben würde - andererseits aber auch keinerlei Ekel, so wie es bei manchen Autosuggestions-Entwöhnungen der Fall sein soll oder sogar angestrebt wird. Mit großer Leichtigkeit warf ich die halbvolle Schachtel weg, weil es nicht den geringsten Zweifel gab, dass ich sie nicht mehr brauchen würde. Anders als bei früheren Aufhör-Versuchen war es kein gemeinsamer Versuch mit Freunden, und ich schloss auch keine Wetten ab, was im Falle eines Rückfalls zu tun sei, denn es würde ja keinen geben. Meine Freunde und deren Meinung waren egal, sie waren diesmal bloß Statisten. Denn das war allein mein Ding.
Es kam dann genau so wie vorausgesehen: von einem Moment auf den anderen nie wieder geraucht, nie wieder etwas vermisst, nie wieder das Bedürfnis danach verspürt. Nur noch einige wenige Male vom Rauchen geträumt und im Traum gedacht: Mist, jetzt hast du doch wieder angefangen. Das ist nun Jahrzehnte her, und ich bin wirklich lückenlos Nichtraucher geblieben. Übrigens kein "militanter"; Raucher haben mich zu keinem Zeitpunkt wirklich gestört. (Nur wenn z.B. Eltern auf ihre Kinder keinerlei Rücksicht nehmen und ihnen tagaus-tagein die Bude vollqualmen, macht mich das wütend.)

Was ich hier beschrieben habe, ist gewiss keine "Methode" - und deshalb dürfte der Nutzen für andere Aufhörwillige auch eher gering sein. Eine "Methode" setzt immer von außen an, aber dieser Schritt kam offensichtlich von innen. Das scheint das eigentliche Erfolgsgeheimnis zu sein. Aber es bedeutet auch: selbst wenn jemand es perfekt nachahmen wollte, wäre es doch nicht das Gleiche. Deshalb erzähle ich das hier auch nicht aus missionarischem Eifer, sondern weil es eins beweist: es ist eine Kopfsache. Es mag Nikotinsucht und wissenschaftlich nachweisbare körperliche Abhängigkeit geben, aber der Kopf kann stärker sein und das alles mühelos, unangestrengt und mir großer Leichtigkeit außer Kraft setzen. Quod erat demonstrandum. Aber erzwingen kann man das wohl nicht - es kann nur "von innen" kommen. Vielleicht waren so gesehen auch die gescheiterten Versuche vorher notwendig - immerhin war das ja bereits eine Auseinandersetzung mit dem Thema, und man weiß ja, dass einmal angegriffene Dinge im Unterbewusstsein auch selbstständig "weiterköcheln" und unbewusst verarbeitet werden können. Irgendwann können sie "gar" sein und dann scheinbar ohne äußeren Anlass mit dem "Ergebnis" der Verarbeitung wieder an die Oberfläche kommen...

Genug der Erklärungsversuche, ich wollte eigentlich nur schildern, wie es bei mir damals gelaufen ist... Jetzt, Jahrzehnte später, könnte ich eigentlich ganz gut eine ähnliche "Erleuchtung" in puncto Abnehmen gebrauchen, aber die wollte sich bisher partout nicht einstellen... ;-)

Gruß, Manfred

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