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Die Ossis und ihre Feinde

jueki / 39 Antworten / Flachansicht Nickles

Mein Freund M. legte seinen Zeigefinger auf den Mund.
„Pst!" Am Nachbartisch des Restaurants saßen zwei
Herren im besten Mannesalter und polterten
in lautem rheinischen Dialekt. „Klar hat der
Kanzler recht", sagte der eine. „Es gibt eine
neue Spaltung zwischen Ost und West. Die
Gräben waren nie tiefer. Ich kenne eine
Menge Leute, die einen Bausparvertrag ab-
schließen würden, wenn davon eine neue
Mauer gebaut würde."
Der andere lachte. „Eine Mauer ist noch
zu wenig. Man sollte die Ossis nach Si-
birien schicken - dort können sie sich dann
weiter über den bösen Kapitalismus aus-
lassen! Wenn man denen so zuhört: Die
wollen doch am liebsten eine DDR light mit
der Kohle vom Klassenfeind. Von uns. Da
fühle ich mich als Zahlmeister ziemlich
verarscht!"
Genau!", nickte dereine. „Das mit den
PDS-Wahlergebnissen ist in der Tat be-
lustigend. Man kann fast 20 Millionen
Deutsche 40 Jahre lang einsperren und
kriegt dann immer noch ein gerüttelt Maß
an Stimmen. Vielleicht sollten sie ja ver-
suchsweise die NSDAP wiedereinführen."
Er schnappte nach Luft. „Eigentlich ist Si-
birien viel zu milde. Zu human. Apartheid
ist der einzige Weg: Die Ossis sollen so lan-
ge nur Stehplätze in Bussen und eigene
Trockenklos - getrennt von allen anderen -
bekommen, bis sie sich endlich einheitlich
über die Regierungspolitikfreuen."
Darauf trinke ich!", rief der andere. —
„Außerdem sollte man ihnen das aktive
Wahlrecht, die Versammlungsfreiheit und
das Recht zu demonstrieren aberkennen,
bis sie allesamt einheitlich versprechen,
diese Rechte nicht mehr zu missbrauchen."
Weil sie nicht demonstrieren, sondern
jammern", kam die Antwort. „Wir
wollen endlich den zufriedenen und - vor
allem - dankbaren Einheitsossi: Es lebe die
Bundesregierung mit Gerhard Schröder
und Josef Fischer an der Spitze. Hurra. Es
lebe die rot-grüne Koalition, der Vortrupp
der internationalen Reformbewegung und
Retter der Menschheit. Das sind die Lo-
sungen, die man den Ossis einhämmern
muss, bevor man ihnen irgendetwas erklärt,
was sie sowieso nicht begreifen kön-
nen oder wollen!"
In dem Moment ging mein Freund M. an
ihren Tisch und drückte den beiden die
Hand. Dann stellte er sich vor. Verdattert
sagten sie ihre Namen. Lächelnd sagte
mein Freund: „Es ist immer gut, wenn man
seine Feinde kennt"

Chemnitzer Morgenpost vom 5.9.04 - Tom Reichel

Aus vollem, schwarzen Herzen: JA!
Jürgen

- Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen "NEIN!" Kurt Tucholsky
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Die Verzweiflung des Stralsunder Ingenieurs

Von Claus Christian Malzahn

Eier fliegen Richtung Kanzler, Arbeiterfäuste werden geballt: Im Osten herrscht explosive Stimmung. Die Verelendung des ostdeutschen Proletariats und der klassenbewussten Facharbeiterschaft schreitet in Riesenschritten voran - das zeigt auch eine Begegnung auf den Fluren der Arbeitsagentur in Stralsund.

Vor kurzem auf dem Flur der Arbeitsagentur in Stralsund, Vorpommern: Der Mann war Ingenieur, seit Jahren ist er ohne Job. Der 53-Jährige lebt in Stralsund mit seiner Frau in einem Plattenbau, auch sie hat seit Jahren keine Arbeit. "Ich kann mir nicht mal mehr den Eintritt ins Schwimmbad leisten", sagt er. Und: "Ich suche verzweifelt einen Job, finde aber nichts."

Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ein weiteres Beispiel für die gnadenlose Härte, mit der Bundesbürger in Ostdeutschland an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden. Dabei hat man ihnen doch versprochen, dass es im neuen Deutschland niemandem schlechter gehen soll als in der DDR. Logisch, dass die PDS einen Höhenflug erlebt.

Der Mann war Ingenieur, seit Jahren ist er ohne Job. Er bekommt im Moment 1200 Euro Arbeitslosengeld. Er lebt in Stralsund mit seiner Frau in einer Plattenbau-Wohnung (Maximalmiete kaum über 300 Euro), auch sie hat seit Jahren keine Arbeit und wird mit 650 Euro monatlich vom Amt unterstützt.

Macht zusammen 1850 Euro Netto, ein Facharbeiterlohn. Abzüglich der Miete bleiben den Eheleuten etwa 1550 Euro zum Leben. "Ich kann mir nicht einmal mehr den Eintritt ins Schwimmbad leisten", sagt er. Das Ostseebad Binz der Ferieninsel Rügen liegt übrigens nur eine knappe Bahnstunde von Stralsund entfernt; die einfache Fahrt kostet acht Euro 40 Cent.

Und: "Ich suche verzweifelt einen Job, finde aber nichts." Wo sucht denn der arbeitslose Ingenieur einen Job? "In Stralsund." In Stralsund wird er aber kaum etwas finden, dort herrscht eine Arbeitslosigkeit von fast 25 Prozent. Würde er denn auch umziehen? Nach Bayern? Baden-Württemberg? Hessen?

"Nur wenn sich das rechnet", sagt er. "Also, wenn ich mir das Pendeln nach Stralsund und eine Zweitwohnung leisten kann!" Und weil es sich nach Ansicht des Ingenieurs nicht rechnet, bleibt er eben in Vorpommern und wartet auf Hartz IV. Dann leben er und seine Frau von 660 Euro plus Wohngeld. Logisch, dass die PDS in Ostdeutschland einen Höhenflug erlebt.

Eine Autostunde weiter südöstlich, in Polen, pendeln die Leute für solche Beträge nach Berlin, Brüssel oder London, um ihre Familien zu ernähren. Aber das ist natürlich was ganz anderes, denn das Leben in Stargard hat mit dem in Stralsund in tarifpolitischer Hinsicht gar nichts zu tun, auch wenn die ökonomischen Verhältnisse nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums durchaus vergleichbar waren.

Macht nichts. Denn in Polen würde diese Geschichte auch niemand verstehen.

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