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Ich weiß nicht, ob das hier schon mal gepostet wurde...

mr_drehmoment / 3 Antworten / Flachansicht Nickles

Hat mir gut gefallen, von Vince Ebert, deshalb kopier ich´s mal hierher:


GEBEN SIE MIR IHRE UHR!

Als ich 1995 mein Physikstudium abschloss, sah es düster aus in den Forschungsabteilungen der Großkonzerne. Da mir eine Karriere als Taxifahrer thematisch einfach zu eng war, bewarb ich mich stattdessen bei einigen Unternehmensberatungen als „Consulter“. Worin genau die Tätigkeit eines Beraters bestand, wusste ich zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht, aber mir gefiel dieser klassische Witz: „Sie leihen sich die Uhr Ihres Kunden, sagen ihm, wie spät es ist, und kassieren dafür einen Tagessatz von 1500 Euro.“

Zu meiner eigenen Verwunderung bekam ich bereits nach drei Wochen den ersten Job. Rein fachlich hatte ich natürlich ernste Bedenken. Aber mein damaliger Chef beruhigte mich mit den Worten: „Als Physiker verstehen Sie zwar genauso wenig von Beratung wie ein BWL-Absolvent, aber dafür in der Hälfte der Zeit.“ Das klang einleuchtend. Und so habe ich als Unternehmensberater bei Banken und Versicherungen für einen Tagessatz von 1500 Euro Uhren abgelesen. Warum auch nicht. Schließlich war ich zwölf Semester lang dem Staat auf der Tasche gelegen, jetzt wollte ich endlich auch mal was dafür haben.

Leider hat man als Naturwissenschaftler gelernt, wenige Worte zu verlieren und dafür das Problem auf den entscheidenden Punkt zu verdichten. Als Unternehmensberater dagegen sind mitunter ganz andere Fähigkeiten gefragt: Das taktisch wortlose Anstarren z.B., oder das gezielte Weghören, gerade in diesen „soft skills“ hatte ich arge Defizite. Besonders schwer fiel mir die spontane Gesprächsführung aus dem geistigen Nichts heraus – die vielleicht wichtigste Fähigkeit, um in dieser Branche Karriere zu machen.

Das jedoch fand ich wiederum aus naturwissenschaftlicher Sicht hochinteressant. Schließlich ist die Erzeugung von Energie aus dem vollkommenen Nichts heraus eines der größten ungelösten Rätsel der Physik. Vielleicht ist das ja sogar eine schlüssige Erklärung für den Urknall? Das gesamte Universum wäre demnach nicht von Gott erschaffen worden, sondern von einer Unternehmensberatung, die gerade bei ihm im Haus war. Ein revolutionärer Gedanke: Eine Gruppe von Consultants sitzt im himmlischen Konfi, brainstormt vor sich hin, und auf einmal sagt ein Betriebswirt aus dem Nichts heraus: „Die Zukunft steckt in der Fusion. Wir müssen expandieren!“ Und: WWWUUUSCH!!! – das Weltall entstand!

Genauso könnte es gewesen sein. Seit Anbeginn des Universums ziehen also die BWLer die Fäden. Hinweise darauf gibt es genug. Oder warum sonst sind so viele Himmelskörper nach Konsumprodukten benannt? Orion, Saturn, Mars ... das kann doch kein Zufall sein!

Nun war endgültig mein Interesse geweckt. Ich wollte mehr erfahren über die geheimnisvolle Welt hinter den Kulissen der Märkte und Produkte. Deswegen wechselte ich nach zwei Jahren Beratung in die Königsklasse der heißen Luft: ins Marketing!

Ein großes Handelsunternehmen bot mir eine Stelle als Verkäufer von Zahnbürsten und Mundduschen an. Ich weiß, das klingt nicht gerade prickelnd. Aber als man mir den Arbeitsvertrag als „Brand Manager Dental Care“ unter die Nase hielt, unterschrieb ich, ohne zu zögern. Innerhalb von wenigen Wochen hatte ich mich vollständig in meinem neuen Umfeld eingelebt. Typische Anfängerfehler wie z.B. der Satz: „Unsere Zahnseide ist der absolute Marktführer" wurden von den Kollegen sofort mit einem Lächeln korrigiert: „Wir sind top of mind im relevant set.“ Im Marketing wird eben Klartext geredet.

Ich lernte schnell, hatte Erfolg und veränderte auch im Privatleben mehr und mehr meine Sprache. Immer öfter ertappte ich mich, dass ich auf Partys Frauen meine Visitenkarte mit den Worten zusteckte: „Darf ich dir ein kleines Response-Element im Zuge einer Go-ahead- Kampagne geben?"

Doch was als harmloses Spiel begann, steigerte sich innerhalb von kürzester Zeit in eine zwanghafte Sucht. Nach einem halben Jahr war ich voll auf Marketing. Eines morgens betrat ich ein Fotogeschäft–Pardon, natürlichden Point of Sale – und höre mich zu der Store-Assistant-Managerin sagen: „Ich bräuchte zwei, drei Close-ups für meinen Reisepass. Schwarz-Weiß ist basic, aber Farbe wäre nice to have. Was die Deadline betrifft, sollten wir uns kurz comitten. Am liebsten as soon as possible ...“

Zu meiner Überraschung blickte mich die Verkäuferin etwas verstört an und hielt mir, wohl in einer Art Übersprunghandlung, den Katalog mit den Hochzeitsbildern unter die Nase. Ich ließ mich nicht beirren und startete einen weiteren Versuch: „Hochzeitsbilder im Reisepass? Das ist am Grenzübergang nicht unbedingt der klassische Door-Opener. Natürlich gehe ich von den Produkt-Features her mit Ihnen vollkommen d'accor. Aber was die Tonality und vor allem das Key-Visual betrifft – sorry, aber da penetriert mir ein Hochzeitsbild viel zu viel Emotions in der Target Group. Da sehe ich beim besten Willen kein Benefit on Top! Denn zum Schluss stehe ich da, mit einer riesigen Awareness, aber die Credibility ist am Arsch!"

Die Verkäuferin sah mich an, wurde blass und begann zu hyperventilieren. Ein ganz kritischer Moment. Jetzt hieß es cool bleiben. Um den Pitch nicht auf der Zielgeraden zu verlieren, änderte ich blitzartig die Copy-Strategy und zog meine Second-best-Lösung aus dem Ärmel: Ich ließ ein Hochzeitsbild machen! Mit Weichzeichner und Blumengesteck. Great! Der Etat war gerettet.

Quelle: http://www.vince-ebert.de/docs/lesen/handelsblatt.php

Schlimmer ? Geht immer !!!
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jueki mr_drehmoment „Ich weiß nicht, ob das hier schon mal gepostet wurde...“
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"...in die Königsklasse der heißen Luft: ins Marketing!"
- Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen "NEIN!" Kurt Tucholsky
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