Mein erstes Meeting mit der Welt
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde ich geboren.
Meine Mutter musste nicht viel tun, der Doktor holte mich heraus - mit
einem Kaiserschnitt. Vielleicht ist ‚geboren werden‘ nicht der richtige
Ausdruck. Vielleicht wäre ‚in die Welt geholt‘ besser. Vielleicht
spielt es auch gar keine Rolle.
Auf jeden Fall war ich auf einmal nicht mehr in Mutters
Bauch und ich begegnete der Welt. Sie war auf den ersten Blick kalt, hart
und fad. Es war nicht sehr angenehm, auf einmal mein eigenes Gewicht tragen zu müssen und zu allem Übel musste ich mich jetzt auf einmal
selber um mein Essen kümmern. Wenn ich Hunger hatte, musste ich schreien,
erst dann bekam ich etwas. Das war ziemlich harte Arbeit, wenn man bedenkt,
dass ich vorher Hunger nicht einmal vom Hörensagen her kannte. Das
erste Mal hatte ich keine Ahnung, was dieses Gefühl bedeutete, also
fing ich einfach mal an zu schreien, was allerdings auch eine sehr eigenartige
Erfahrung war. Dieses Kratzen im Hals war unangenehm und das, was dabei
herauskam, tönte schrecklich komisch. Immerhin kriegte ich für
diese Schwerstarbeit meinen Lohn. Milch, warme Milch. Allerdings kam diese
nicht von der Brust meiner Mutter, was ich am liebsten gehabt hätte,
sondern von einer Flasche, die man mir hinhielt. Aber soweit ich das beurteilen
kann, schmeckt es ungefähr gleich, also habe ich nicht viel verpasst.
Das Saugen machte Spass. Je mehr ich an dem weichen Gummiteil sog, desto
mehr Milch kam. Ich wollte die ganze Zeit saugen, aber man nahm mir die
Flasche nach einer Weile wieder weg.
Genau zu diesem Zeitpunkt begann ich meine Meinung über
die Welt schon zu ändern. Kalt war sie auf keinen Fall.
Ich wurde nach meinem ausgiebigen Mahl irgendwohin gelegt,
wo es nicht nur warm, sondern auch noch weich war. Unglaublich weich. Bis
ich begriff, dass ich nun doch endlich an der Brust meiner Mutter lag - was ich ja die ganze Zeit über gewollt hatte - war ich schon fast
eingeschlafen. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ich gerade
mal ein paar Minuten auf der Welt war. Gerade erst angekommen und schon
wieder müde. Aber was wollte ich machen? Gegen seinen Körper
kann man sich nicht wehren, das musste ich noch viele Male erfahren. Doch
damals wusste ich das alles ja noch gar nicht. Der Körper meiner Mutter
war so warm und weich, dass man sich so richtig hineinkuscheln konnte.
Es war so angenehm, dass ich diesen Ort niemals mehr verlassen wollte.
Zu diesem Zeitpunkt begann ich meine Meinung über
die Welt erneut zu ändern. Kalt war sie nicht, und hart schon gar
nicht.
Und als ich dann schlief, geschah das Wunderbarste überhaupt,
etwas, das mir noch nie vorher passiert war. Naja, so viel Erfahrung hatte
ich ja auch noch nicht. Aber das, was jetzt passierte, war so unfassbar,
dass ich es fast nicht glauben konnte. Damals wusste ich noch nicht, was
es war, aber jetzt weiss ich es. Ich träumte, sowie ich seither jede
Nacht geträumt habe. Die ganze Welt versammelte sich in meinem Kopf,
lachte, tanzte und vergnügte sich. Farbige Gegenstände flogen
um mich herum und komische Geräusche drangen in meine Ohren, die auf
wundersame Weise schön tönten. Später erfuhr ich, dass das
Musik war, doch damals kam es mir vor wie Zauberei.
Da wusste ich, dass die Welt nicht kalt und nicht hart
war, und schon gar nicht fad.
(c) Anita Walser, 2000