www.textlog.de/1395.html

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Tag Tilo,
...fals wieder einer erklärt haben will was Formation bedeutet obwohl Formatieren gemeint war, kann ich ihm ja diesen Link Formation hinposten :)
Ich wollte wissen was "Freuds Methode die Konjektur" bedeutet, in einem Text von Leo Trotzki, der die Methoden Pawlows und Freuds vergleicht. Es ist ein Text über Trotzkys Zeit in Östereich und seine Bekanntschaft zu Alfred Adler. Übrigens die Schreibweise bereitet mir Schwierigkeiten; unzweifelhaft schreibt sich Trotzki mit i am Ende, aber beim Genetiv sehe ich immer nur Schreibweisen mit y, ist das korrekt, kennt sich da jemand aus?
"Dieses erste Kennenlernen der Psychoanalyse soll aber nicht nur eine kurzfristige Angelegenheit bleiben. Trotzki beschäftigt sich von nun an ziemlich intensiv mit solchen Fragen, vor allem mit den Ideen Sigmund Freuds. In einem längeren Artikel zum Thema “Kultur und Sozialismus” geht er auf die in der Sowjetunion entbrannte Debatte zur Rolle der Psychoanalyse ein: “Die marxistische Wissenschaftskritik muß nicht nur wachsam, sondern auch vorsichtig sein, sonst verkommt sie zu reiner Angeberei, zu Famusowismus. Die Psychologie bietet ein gutes Beispiel. Pawlows Reflexologie verfährt gänzlich nach den Methoden des dialektischen Materialismus. Sie reißt konsequent die Mauer zwischen Physiologie und Psychologie ein. Der einfachste Reflex ist physiologisch, aber ein System von Reflexen gibt uns ‘Bewußtsein’. Die Anhäufung von physiologischer Quantität ergibt eine neue ‘psychologische’ Qualität. Pawlows Methode ist experimentell und gewissenhaft. Schritt für Schritt werden Verallgemeinerungen gewonnen: vom Hunde-Speichel bis zur Poesie - das heißt, zum psychischen Mechanismus des Dichtens, nicht zum sozialen Gehalt der Dichtung. Freilich sind die Wege, die zur Poesie führen, vorerst noch nicht gefunden worden.
Die Schule des Wiener Psychoanalytikers Freud verfährt auf andere Weise. Sie nimmt von vornherein an, daß die Triebkraft der komplexesten und sublimsten psychischen Prozesse ein physiologisches Bedürfnis ist. In diesem allgemeinen Sinn ist sie materialistisch, läßt man die Frage beiseite, ob hier nicht dem sexuellen Faktor auf Kosten anderer zu viel Gewicht eingeräumt wird, denn das ist bereits ein Streit innerhalb der Grenzen des Materialismus. Aber der Psychoanalytiker geht an die Probleme des Bewußtseins nicht experimentell heran, indem er von den niedrigsten Erscheinungen zu den höchsten fortschreitet, vom einfachen Reflex zum komplexen Reflex, sondern indem er die Zwischenstufen in einem Satz von oben nach unten zu überspringen sucht, vom religiösen Mythos, dem lyrischen Gedicht oder den Träumen direkt zur physiologischen Grundlage der Psyche.
Die Idealisten sagen uns, die Psyche sei eine selbständige Wesenheit, die ‘Seele’ ein Brunnen ohne Boden. Pawlow wie Freud meinen, der Boden der Seele sei die Physiologie. Aber Pawlow steigt wie ein Taucher auf den Grund hinab und erforscht den Brunnen sorgsam von unten bis oben, Freud steht über dem Brunnen und sucht mit scharfem Blick die ständig bewegte, unruhige Wasseroberfläche zu durchdringen und die Gestalt der Dinge, die darunter liegen, zu erkennen oder zu erraten. Pawlows Methode ist das Experiment, Freuds Methode die Konjektur, manchmal die phantastische Vermutung. Der Versuch, die Psychoanalyse für ‘unvereinbar’ mit dem Marxismus zu erklären und den Freudismus einfach zu ignorieren, ist allzu einfach, genauer: einfältig. Wir sind ja nicht gezwungen, den Freudismus zu akzeptieren. Es handelt sich dabei um eine Arbeitshypothese, die im Rahmen der materialistischen Psychologie Deduktionen und Konjekturen ermöglicht. Durch Experimente wird man zu gegebener Zeit diese Vermutungen auf ihre Stichhaltigkeit hin prüfen. Wir haben keinen Grund und kein Recht, das psychoanalytische Verfahren mit einem Bann zu belegen. Auch wenn es weniger sicher ist, versucht es doch, die Schlußfolgerungen vorwegzunehmen, zu denen die experimentelle Psychologie nur sehr langsam vorstößt.
Mit Hilfe dieser Beispiele wollte ich auf die Heterogenität unseres wissenschaftlichen Erbes wie auf die verwickelten Wege hinweisen, auf denen das Proletariat es in Besitz nehmen kann. Wenn es stimmt, daß beim wirtschaftlichen Aufbau Probleme nicht per Dekret gelöst werden können und wir lernen müssen, ‘Handel zu treiben’, dann kann auch in der Wissenschaft das Kommandieren nur Schaden stiften und uns Schande bereiten. Auf diesem Gebiet müssen wir ‘das Lernen lernen’.”"
Zitiert nach:
Der Funke